Berlin, 15. Juni 2022 – Die deutsche Justiz hat in Sachen Digitalisierung Aufholbedarf. International hinkt die Bundesrepublik den führenden Nationen deutlich hinterher. Das ist eines der Ergebnisse der Studie The Future of Digital Justice der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG), der Bucerius Law School (BLS) und des Legal Tech Verbands Deutschland (LTV). Dafür haben die Autoren anhand von knapp fünfzig Experteninterviews den Stand der Digitalisierung der Justiz in Deutschland mit den Vorreiternationen Singapur, Kanada, Großbritannien und Österreich verglichen.
Das Fazit des Ländervergleichs: Deutschlands Politik muss ihre Strategie im Hinblick auf die Digitalisierung neu ordnen und Tempo aufnehmen. Wenn die Bundesrepublik es schafft, die Justiz systemisch zu digitalisieren, statt Insellösungen zu entwickeln, kann dies die Effizienz und Akzeptanz des Rechtssystems massiv erhöhen. Partielle Überlastung würde so überwunden und der Zugang zum Recht deutlich verbessert.
Die Studie zeigt, wie andere Länder ihre Justizsysteme digitalisieren. Verbindende Elemente ihrer Ansätze sind die Steigerung der Effizienz der Gerichte, einschließlich der Beschleunigung von Verfahren; ein klares Bekenntnis zur Nutzerorientierung, einschließlich moderner Software und Prozessentwicklung; sowie die Einführung von Datenanalyse.
Vorreiter bei digitaler Justiz ist Singapur
Die wohl digitalisierteste Justiz der Welt hat der Stadtstaat Singapur. Dies ist vor allem auf das einheitliche und lückenlose Online-Fallverwaltungssystem für alle Gerichtsbarkeiten und alle Beteiligten zurückzuführen. Parteien, Anwältinnen und Anwälte, Behörden, Richter:innen und Sachverständige nutzen eine gemeinsame Plattform, auf der sie in Echtzeit miteinander kommunizieren und arbeiten können. Anwältinnen und Anwälte können jederzeit auf ihre Akten zugreifen, Termine für Anhörungen festlegen und an virtuellen Anhörungen teilnehmen. „Singapur ist ganz klar der Vorreiter in puncto Digitalisierung der Justiz. Eine gemeinsame Plattform für alle Beteiligten eines Gerichtsverfahrens sollte auch das Ziel für Deutschland sein, damit unsere vielen rechtsstaatlichen Errungenschaften auch bei den Rechtsuchenden ankommen“, sagt Dirk Hartung, Executive Director bei der Bucerius Law School und Co-Autor der Studie.
Im Bereich der Erfassung und Nutzung von Daten kann Großbritannien als Vorbild dienen. Die Einführung eines digitalen Fallmanagementsystems zur Erfassung von Leistungsdaten der Gerichte (z. B. Fallzahlen und ‑dauer) führte zu einem besseren Verständnis der Bedürfnisse aller Beteiligten sowie einer Effizienzsteigerung in der Verwaltung und verkürzt inzwischen sogar die durchschnittliche Verfahrensdauer. Anfängliche Bedenken im Hinblick auf eine mögliche Überwachung einzelner Richter:innen und zusätzlichen Aufwand durch die Datenerfassung haben sich nicht bestätigt. Das System ist heute ein wichtiger Pfeiler für die weitere Digitalisierungsreform in Großbritannien. „Die gezielte Nutzung von Daten wird bei der Digitalisierung der deutschen Justiz eine entscheidende Rolle einnehmen, Projekte wie in Großbritannien zeigen deren Nutzen“, so Dirk Hartung.
Ein Vorbild sind auch die föderal organisierten Nationen Kanada und Österreich, die mit regionalen Leuchtturmprojekten und Reallaboren einzelner Bundesstaaten sowie nationaler Führung und Bündelung von Digitalisierungsressourcen in föderalen Systemen heute zu den Vorreitern zählen. Das ist bemerkenswert, weil Föderalismus in Deutschland nicht selten als Hindernis für Reformen angeführt wird. „Dass eine umfassende Reform auch und gerade in föderalen Systemen gelingen kann, zeigt die Studie anhand eines Projekts in Kanada besonders gut“, erklärt Dr. Philipp Plog, Vorstandsvorsitzender des Legal Tech Verbands Deutschland und Co-Autor der Studie. Das „Civil Resolution Tribunal“ in British Columbia ist möglicherweise das fortschrittlichste Online-Gericht der Welt. Während des gesamten Verfahrens erfolgen alle Interaktionen mit dem Gericht und seinen Systemen vollständig digital. Das Gericht hat insgesamt fast 20.000 Streitfälle mit einer sehr hohen Nutzerzufriedenheit abgeschlossen: Nahezu 85 Prozent (einschließlich der unterlegenen Parteien) würden es weiterempfehlen.
„Föderalismus kann die Digitalisierung sogar fördern, weil länderspezifische Besonderheiten von Anfang an berücksichtigt werden können“, erläutert Plog. „Wir hoffen, mit der Studie und den positiven Beispielen aus anderen föderalen Nationen vor allem auch die Justizminister:innen der Länder in Deutschland zu erreichen, um schnell in die konkrete Umsetzung zu kommen.“
Den analysierten Ländern ist es offenbar auch gelungen, die Diskussion um die Ausstattung der Justiz nicht allein aus einer Kostenperspektive zu führen, wie es in Deutschland angesichts von Massenverfahren zuletzt der Fall war. Sie erkennen systemische Digitalisierung vielmehr als Hebel, um die Leistungsfähigkeit der Justiz für Verbraucher:innen und Unternehmen zu erhöhen. Darüber hinaus wurde der Privatsektor stark eingebunden, um von dessen Know-how und Umsetzungsstärke zu lernen.
Deutschland hat großen Aufholbedarf
Die Studie zeigt, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Justiz noch einen weiten Weg vor sich hat. Die hierzulande eingesetzten technischen Lösungen sind vergleichsweise wenig vertreten, veraltet und nicht ausreichend nutzerorientiert. Zudem werden sie in den einzelnen Bundesländern, Gerichten und Fachgerichtsbarkeiten uneinheitlich umgesetzt. „Die Digitalisierung der Justiz hinkt hinter den führenden Ländern hinterher, während die Überlastung der Gerichte, der Kostendruck und die bevorstehende Pensionierungswelle – über 25 Prozent aller Richter:innen werden bis 2030 in den Ruhestand gehen – den Druck zur Modernisierung und Digitalisierung der Gerichte erhöhen“, sagt Dr. Christian Veith, Senior Advisor bei BCG und Co-Autor der Studie.
„Zu Beginn muss sich Deutschland das Ziel setzen, eine führende Rolle im Bereich der digitalen Justiz zu übernehmen. Klar definierte Führungsstrukturen – idealerweise auf Ministerebene – sind dabei unerlässlich“, erklärt Dr. Philipp Plog und fügt hinzu: „Es müssen erhebliche Haushaltsmittel bereitgestellt und mehrjährige Beschaffungsverfahren neu konzipiert werden. Wir sollten auch die Erfahrungen des Privatsektors nutzen, um schneller zu Ergebnissen zu gelangen.“
Die Umsetzung könnte sich an drei Elementen orientieren: der Steigerung der Effizienz der Gerichte, einschließlich der Beschleunigung von Verfahren; einem klaren Bekenntnis zur Nutzerorientierung, einschließlich moderner Software und Prozessentwicklung; und einer zeitnahen Einführung von Datenanalyse, um die relevanten Informationen zur Ermittlung und Lösung der dringendsten Probleme bereitzustellen. Dazu ergänzend Dirk Hartung: „Wenn Deutschland seine derzeitige Digitalisierungsstrategie fortsetzt, werden wir womöglich die nächsten Jahre mit der Digitalisierung bestehender Gerichtsverfahren und der Verbesserung bestehender Lösungen verbringen. Damit sorgen wir aber weder für einen besseren Zugang zum Recht, noch steigern wir die Effizienz oder setzen neue Technologien sinnvoll ein. Weitermachen wie bisher ist daher keine gute Option.“
Für die Studie wurden knapp 50 Tiefeninterviews mit Richter:innen, Sachbearbeiter:innen und IT-Manager:innen von Gerichten, Regierungsbeamt:innen, Syndikusanwält:innen, Partner:innen und Manager:innen von Großkanzleien, Geschäftsführer:innen von Sozietäten, Inhaber:innen und Geschäftsführer:innen von Versicherungsunternehmen, Vorstandsmitgliedern von Wirtschaftsverbänden sowie Wissenschaftler:innen geführt. Die Interviews wurden durch umfangreiche Recherchen, Analysen und Auswertungen der vorhandenen Literatur ergänzt. Anhand eines detaillierten Ländervergleichs leitet die Studie außerdem konkrete Lösungsvorschläge und strategisch notwendige Schritte für Deutschland her.
Die Boston Consulting Group (BCG) unterstützt führende Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft in partnerschaftlicher Zusammenarbeit dabei, Herausforderungen zu meistern und Chancen zu nutzen. Seit der Gründung 1963 leistet BCG Pionierarbeit im Bereich Unternehmensstrategie. Die Boston Consulting Group hilft Kunden, umfassende Transformationen zu gestalten: Die Beratung ermöglicht komplexe Veränderungen, eröffnet Wachstumschancen, schafft Wettbewerbsvorteile, verbessert die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit und bewirkt so dauerhafte Verbesserungen des Geschäftsergebnisses.
Nachhaltiger Erfolg erfordert die Kombination aus digitalen und menschlichen Fähigkeiten. Die vielfältigen, internationalen Teams von BCG bringen tiefgreifende Expertise in unterschiedlichen Branchen und Funktionen mit, um Veränderungen anzustoßen. BCG verzahnt führende Management-Beratung mit Expertise in Technologie, Digital und Analytics, neuen Geschäftsmodellen und der übergeordneten Sinnfrage für Unternehmen. Sowohl intern als auch bei Kunden setzt BCG auf Gemeinschaft und schafft dadurch Ergebnisse, die Kunden nach vorne bringen. Das Unternehmen mit Büros in mehr als 90 Städten in über 50 Ländern erwirtschaftete weltweit mit 25.000 Mitarbeiter:innen im Jahr 2021 einen Umsatz von 11 Milliarden US‑Dollar. Weitere Informationen: www.bcg.de
Die Bucerius Law School ist die erste private Hochschule für Rechtswissenschaft in Deutschland. Sie wurde im Jahr 2000 von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius gegründet. Das 2020 gegründete Center for Legal Technology and Data Science erforscht Rechtssysteme mit rechts- und naturwissenschaftlichen Methoden. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der normativen, qualitativen und quantitativen wissenschaftlichen Begleitung der Digitalisierung von staatlichen und privaten Rechtsdienstleistungen in Deutschland und weltweit. In der Ausbildung bietet die Hochschule ihren Studierenden ein umfangreiches Technologiezertifikat (Informatik, Data Science, Programmierung, Softwareentwicklung und Ethik), ein Sommerprogramm Legal Technology and Operations sowie einen entsprechend spezialisierten Masterabschluss (LL.M./MLB) an.
Der im Jahr 2020 gegründete Legal Tech Verband Deutschland e. V. steht für Digitalisierung und Innovation des deutschen Rechtsmarktes und vertritt dabei als einziger Verband alle Marktakteure. Zu seinen Mitgliedern zählen zum Beispiel Kanzleien, Unternehmen, Rechtsschutzversicherer, Softwareanbieter und Legal-Tech-Start-ups. Der Verband setzt sich für einen innovationsfreundlichen Rechtsrahmen, Rechtssicherheit und die Förderung von Investitionen in Legal Tech ein, um so die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rechtsmarktes sicherzustellen.
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